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Gefahr ist gut
Wenn es zu laut, zu schnell, zu hektisch zugeht auf der Straße, sorgen Behörden mit Schildern für Ordnung. Ein niederländischer Verkehrsplaner erreicht mit dem Gegenteil bessere Ergebnisse: Ohne Regeln wird der Verkehr sicherer.Von Ute Eberle
Hätte er nicht so freundliche Augen und ein so warmherziges Lächeln, man wäre versucht, den Mann für einen Sadisten zu halten. Da sitzt er, in Sakko und Krawatte, auf einem Blumenkübel im nordholländischen Städtchen Drachten, an der Ecke einer Kreuzung, auf der der Verkehr brodelt. In dichten Abständen rollen die Autos an ihm vorbei. Säße der Mann hier lange genug, könnte er pro Tag 12 000 Fahrzeuge in der Längsverbindung zählen und weitere 5500, die aus der Querrichtung auf den Platz drängen. Radfahrer preschen vorüber, und aus der Fußgängerzone hinter ihm quellen Passanten. Die Fußgänger, die schwatzenden Schüler in Fahrradpulks, die Väter mit den Kindern auf dem Gepäckträger, die Frauen in Kleinwagen voller Einkaufstaschen, die Laster, die Autobusse, die Linksabbieger, die Geradeausfahrer - sie alle eilen auf die Kreuzung zu, vermengen sich auf ihr und suchen wieder ihren Weg hinaus.
Keine Ampel und kein Vorfahrtsschild helfen ihnen dabei. Es gibt nicht einmal Bürgersteige oder auch nur Fahrbahnmarkierungen. Die Kreuzung ist, gewissermaßen, nackt: ein ebener, rot gepflasterter Platz. Und es war der Mann im Sakko, der sie dazu machte, der die Ampeln wegnahm, die Radwege auslöschte und die Menschen in diesen Zustand kompletter Verkehrsanarchie katapultierte. Drei Jahre ist das nun her, aber Hans Monderman wird es nicht müde, die Ergebnisse seines Tuns zu betrachten. »Ich gucke immer wieder gerne zu«, sagt er.
Wirklich, Hans Monderman ist kein Sadist. Er ist Verkehrsplaner. Und bitte: nicht verwechseln mit »Verkehrsingenieur«! Das könnte ihn sehr kränken. Denn Verkehrsingenieure sind die Leute, die Straßen breiter machen, Radfahrer in uringetränkte Unterführungen zwängen, Fahrbahnen trennen, Ampeln synchronisieren und generell wollen, dass der Verkehr immer schneller, flüssiger und anonymer fließt - auch wenn das bedeutet, dass sich Passanten, Skateboardfahrer und all die anderen, die kein dickes Blech um und schwere Motoren unter sich haben, da ganz verloren fühlen. So denkt Monderman. Verkehrsingenieure sehen ein Problem und stellen noch ein Schild mehr auf. Monderman sieht ein Problem und montiert Schilder ab. Alle Schilder. Und dann alle anderen Baumaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen, die versuchen, den Verkehr zu ordnen.
Hans Monderman will keine Ordnung, er will Verwirrung. Und er will keine Trennung, er will, dass sich die Menschen die Straße teilen. Shared space nennt er es, wenn er Autos, Radler, Fußgänger, Mopeds und die übrigen Verkehrsteilnehmer durcheinander wuseln lässt, keinem und damit allen die Vorfahrt gibt und so jeden zwingt, auf seine Mitmenschen aufzupassen. Vorfahrts- und Stoppschilder, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Ampeln wiegten die Menschen nur in der falschen Sicherheit, »dass ihnen nichts passieren kann, solange sie sich an die Regeln halten«, sagt Monderman. »Und das stimmt nicht.« Theoretisch gilt auch auf Mondermans Kreuzungen »rechts vor links«, praktisch verlässt sich aber jeder lieber auf den direkten Blickkontakt.
Kürzlich baute Monderman einen Spielplatz in ein Wohngebiet, direkt neben die Straße. Oder besser gesagt: direkt in die Straße hinein. Plötzlich stehen da ein paar zarte Büsche in der Fahrbahn, die Autos müssen nach rechts ausscheren und rollen so dicht an der Schaukel vorbei, dass der Sand unter ihren Reifen knirscht und ein Kind, das ungünstig stolpert, unmittelbar vor dem Kühler landen würde. Und keine Warntafel, kein Tempo-30-Schild, keine bremsende Schikane. Riskant? Durchaus! Aber das hat der 59-Jährige in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelernt: Man muss den Verkehr gefährlicher machen, damit er sicherer wird.
Das Ganze ist so unlogisch wie die menschliche Psyche, und prompt funktioniert es bestens. Man nehme etwa Mondermans bekanntestes Projekt, eine viel befahrene Kreuzung, ebenfalls in Drachten. Täglich wird sie von rund 22 000 Motorfahrzeugen, 5000 Radlern und ungezählten Fußgängern überquert. Die städtische Bücherei und das Rathaus liegen in Steinwurfweite, ein Einkaufszentrum um die Ecke und der zentrale Busbahnhof mit seinen ständig ab- und anfahrenden Bussen direkt vor der Kreuzung. Zwei Banken, ein Restaurant, eine Zeitarbeitsfirma und das städtische Theater besetzen ihre Ecken.
Früher rollte der Verkehr auf ihr mehrspurig. Linksabbieger, Busse und auch die Radfahrer hatten ihre eigene Fahrbahn. Trotzdem dauerte es oft lange, bis man durch war, denn war die Ampel rot, konnte man nur warten, und derweil qualmten die Abgase die Luft voll. Heute teilen sich Busse, Autos, Laster und Radfahrer eine Spur um einen Kreisverkehr, der so klein gehalten ist, dass die Mehrtonner gerade noch die Kurve kriegen. Auf dem Platz, der dadurch frei wurde, sprudeln viele Springbrunnen, zwischen denen im Sommer juchzend die Kinder toben.
Erstaunliche Dinge lassen sich hier beobachten. Autos stoppen für Fußgänger. Lasterfahrer stimmen sich mit Radfahrern per Blickkontakt ab. Ein Mann mit roter Jacke auf einem Rennrad späht in das Innere eines schwarzen Toyota und signalisiert dem Fahrer, dass er abbiegen und ihm nicht in die Quere kommen wird. Ein weißhaariger Herr im motorisierten Rollstuhl kreuzt quer über die Fahrbahn, und niemand hupt. Kaum ein Fahrzeug fährt schneller als 20 Stundenkilometer, doch weil fast niemand anhalten muss, dauert es heute nur etwa 10 Minuten, um das Zentrum von Drachten zu durchqueren, während es früher 20 waren. Und die Unfallstatistiken sind prima. An mittlerweile 107 Straßen und Kreuzungen hat Monderman sein Shared-Space-Konzept umgesetzt. An keiner ereignete sich bisher ein ernster oder gar tödlicher Unfall.
Das alles trägt Monderman viel Aufmerksamkeit ein. Von weither reisen Städteplaner, Politiker und Journalisten nach Nordholland, er wird zu Vorträgen ins Ausland eingeladen. Denn Verkehr ist in vielen Ländern zu einem großen Problem geworden. Statistisch betrachtet, sterben rund um den Globus jede Minute zwei Menschen auf den oft bereits hoffnungslos überfüllten Straßen. Die Weltgesundheitsbehörde WHO prognostizierte in einer 2004 veröffentlichten Studie, dass Verkehrsunfälle bis 2020 nach Herzkrankheiten und Depression zur drittgrößten Ursache von Tod und Behinderung werden könnten, falls sich nicht grundlegend etwas ändert.
In den reichen Industrieländern mit ihren mit Airbags und ABS ausgestatteten Wagen ist die Todesrate zwar - vergleichsweise - gering. Doch der Druck, sie zu halten, ist hoch, der Aufwand an Polizisten, Radarkameras und Mahnkampagnen zum Teil enorm. Und die meisten Unfälle passieren Monderman zufolge nicht auf der Autobahn, sondern in einem Radius von 15 Kilometern von zu Hause, oft außerhalb des eigenen, unmittelbar vertrauten Viertels, wenn die anderen Menschen auf der Straße aufhören, Nachbarn, Freunde und Bekannte zu sein und nur noch Hindernisse auf dem schnellsten Weg von A nach B sind. Genau da möchte Shared Space gegenwirken. Indem es die Menschen aktiv ins Verkehrsgeschehen einbindet und nicht nur passive Straßenbenutzer sein lässt, macht es die Umwelt persönlicher und den Umgang mit ihr automatisch rücksichtsvoller. Natürlich kann dies nicht überall funktionieren. Auf Autobahnen und Schnellstraßen habe Shared Space nichts zu suchen, so Monderman - dort genießen Pkw zu Recht Vorrang.
Er ist der bekannteste, aber nicht der einzige Verkehrsplaner, der diesen revolutionären Einfall hatte. Ähnliche Konzepte werden auch anderswo in Europa ausprobiert. So entfernte etwa die dänische Stadt Christiansfeld Schilder und Ampeln von einer Hauptverkehrskreuzung und beobachtete einen Rückgang von schweren und tödlichen Unfällen. Und Kommunen in den britischen Countys Suffolk und Wiltshire ließen auf manchen Straßen den Mittelstreifen verschwinden und stellten fest, dass die Autofahrer seither vorsichtiger sind.
Dieser Tage hilft Hans Monderman, ein länderübergreifendes EU-Projekt zu koordinieren, bei dem sieben Städte in Belgien, Holland, Dänemark, England und Deutschland mit Shared Space experimentieren. Für die Bundesrepublik beteiligt sich die niedersächsische Gemeinde Bohmte. In ihr soll eine viel befahrene Durchgangsstraße umgebaut werden. Das Projekt befindet sich noch im Planungsstadium.
Wie aber kommt jemand auf so eine Idee? Hans Monderman ist Verkehrsplaner mit Leib und Seele. Er treibt seine Frau regelmäßig zur Weißglut, weil er es selbst im Urlaub nicht lassen kann, etwa die Höhe der Bordsteine zu kommentieren. Und hat er Zeit - zunehmend seltener -, schnippelt er Unfallberichte aus Zeitungen und grübelt, wie man die Zusammenstöße hätte vermeiden können. Aber dass so etwas wie Shared Space funktionieren könnte, nein, das hätte Hans Monderman einst selbst am wenigsten geglaubt. Wie er also darauf kam? Aus Verzweiflung.
Gut 20 Jahre liegt das nun zurück. Damals arbeitete er als Verkehrssicherheitsbeauftragter der Provinz Friesland und bekam den Auftrag, eine Durchgangsstraße in einer nordholländischen Gemeinde umzubauen. Täglich fuhren dort rund 6000 Autos und 2500 Radfahrer, Erstere oft zu schnell und Letztere nervös an den Rand gedrängt. Für einen gesonderten Radweg war kein Platz, und so war Mondermans Aufgabe klar: Er musste die Autos langsamer machen. Nur wie? Er hatte die Ingenieure seiner Abteilung bereits derart mit seinen chronisch verkehrsberuhigenden Maßnahmen erzürnt, so ahnte er, »dass mich jeder weitere Blumenkübel meinen Job gekostet hätte«.
Aus einem Instinkt heraus ließ er den Asphalt durch rote Klinkersteine ersetzen, mit einem sandfarbenen Saum links und rechts, sodass die Straße optisch schmal erschien. Es sollte wie ein Dorf aussehen, nicht wie eine anonyme Durchgangsstraße. »Aber ich hatte kein Vertrauen, dass es funktionieren würde.« Als der Umbau fertig war, wagte Monderman es nicht, sich in der Kommune blicken zu lassen. Doch nach einem Monat war die befürchtete Flut von Beschwerden und Katastrophenmeldungen noch immer ausgeblieben, und so schlich er mit einer Radarpistole in den Ort. Überrascht stellte er fest, dass er kaum etwas messen konnte. »Das Gerät registrierte Geschwindigkeiten erst ab 30 Stundenkilometern.« Die meisten Autos aber fuhren langsamer.
Den Mann hält es nun nicht mehr auf dem Blumenkübel. Er steht auf und tut, was er oft tut: läuft in die Kreuzung - ohne zu gucken und rückwärts noch dazu. Ein Kleinwagen bremst und lässt ihn passieren. Die Fahrerin guckt milde verblüfft, bleibt aber nonchalant. Andere Autos weichen aus. Niemand hupt, niemand brüllt Unanständiges aus heruntergekurbelten Fenstern. »Würde ich das woanders machen«, ruft Monderman durch den Verkehrslärm, »wäre ich jetzt tot.« ?
Lebensmüde? Hans Monderman hat keine Angst, sich mitten auf die von ihm gestaltete Kreuzung zu setzen.
Wahnsinn. Für mich ist der Mann ein Genie!! Da ich die Umsetzung selbst noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe, bin ich zwar trotzdem noch etwas skeptisch, aber ich find ja solche unkonventionellen Anti-Status-Quo-Sachen, wenn sie Materie besitzen, sowieso super